16. April 2024

Technische Singularität und das Bundesverfassungsgericht

Wenn neue Technologien auf den Markt kommen, sind die meisten Bibliotheken nicht nur interessiert, sie probieren auch das ein oder andere aus und integrieren sie in ausgewählte Anwendungen und Projekte. Wenn aber Revolutionen ausgerufen werden, sind die meisten Bibliotheken vorsichtig bis skeptisch. Das ist prinzipiell auch nicht verkehrt, hat sich doch manch eine (technische) Revolution als  grosser Bluff entlarvt oder aber als reine Phantasterei. Schwieriger wird die ganze Geschichte nur dann, wenn neue Technologien und Revolutionen die Zukunft der Bibliotheken in Frage zu stellen scheinen. Dann spätestens wird es Zeit, sich diese Dinge näher anzuschauen und eine belastbare Meinung dazu aufzubauen.

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Eine solche, von vielen Menschen noch weit weg oder gar im Reich des Science Fiction verortete Idee ist die der Technischen Singularität. Technische Singularität bezeichnet alle Konzepte, die zu einem Zeitpunkt spielen, wenn Maschinen intelligenter sein werden als Menschen – mit all den Konsequenzen.

Was das für Bibliotheken bedeutet und ihre Dienstleistungen, werden wir noch sehen.

Ob Bibliotheken also in der Technischen Singularität noch eine Rolle spielen werden, ist aktuell vielleicht noch eine Zukunftsfrage und noch so weit entfernt, dass man noch nicht über sie nachdenken muss. Tatsächlich jedoch realisieren Bibliotheken bereits jetzt Leistungen, die durch den Einsatz von Maschinen Ergebnisse intelligenter machen als durch menschliches Nachdenken.

Wer etwa durch die Kombination (frei) verfügbarer Daten Erkenntnisse generiert und Muster sichtbar macht, die durch intellektuelle Durchdringung nicht erreicht worden wären, hat bereits einen Beitrag zur Maschinenintelligenz geliefert. Und das ist erst der Anfang.

Die Verwendung von digitalisierten und digital-born Materialien und Daten für eine Neukombination des Wissens ist im vollen Gange. Die bisherigen Mechanismen der klassischen Rezeption von Geschriebenem und die Zitierung bei Wiederverwendung sowie die Inkorporation in neue Wissensbausteine könnten vor ihrem Ende stehen.

Wieder einmal geht die Kunst – und hier speziell die Musik und ihr Werkverständnis – ein Stück voraus: Gerade eben erst hat das Bundesverfassungsgericht die erlaubnisfreie Verwendung von Samples zur künstlerischen Gestaltung zugelassen und sieht darin nicht mehr länger einen Eingriff in die Urheber- und Leistungsschutzrechte. Die digitale Welt erlaubt eben die Neuzusammensetzung von Inhalten und die Schaffung von neuen Mustern ohne aufwändiges „Abschreiben“ und Zitieren.

Auch und gerade in der Wissenschaft kann die digitale Neukombination Sinn stiften, und die Inhalte bisheriger Erkenntnisbruchstücke bringen Einsichten, die so bislang nicht möglich waren. Es bleibt die Hoffnung, dass auch dies künftig nicht mehr verboten sein wird  und damit die Wissenschaft ein grosses Stück Freiheit dazugewinnt.

Und daran zeigt sich ganz nebenbei, wohin die Reise von Open Science wirklich geht: Nämlich weit hinaus über verkrampfte Open Access Diskussionen, wo mit buchhalterischer Kleinlichkeit Verträge und Lizenzen durchforstet werden, Formalisten unerträgliche Excel-Tabellen zusammenschreiben und dies als Transformation des Publikationswesens verkauft wird.

Die Reise von Open Science führt in die helle Zukunft wirklich freier Wissenschaft, deren Resultate frei verfügbar sind und wo das Veröffentlichen und Rezipieren nicht mehr Handelsprodukte zur Maximierung von Unternehmensgewinnen sein werden. Und diese Zukunft ist weit näher als die Technische Singularität. 

Rafael Ball

Technical singularity and the
Federal Constitutional Court

When new technologies arrive on the market, not only are most libraries interested; they also test a few and integrate them in selected applications and projects. If revolutions are heralded, however, most libraries are cautious or even sceptical. In principle, this is not a bad thing, either, as many a (technical) revolution has turned out to be a big bluff or even a pure flight of fancy. The whole story only becomes trickier when new technologies and revolutions appear to call the future of libraries into question. By then at the latest, it is time to take a closer look at these things and build a well-founded opinion on them.

One such idea, which, for many people, is still a far cry away or even belongs in the realms of science fiction, is technical singularity, namely all the concepts that play at a point in time if machines become more intelligent than people – with all the consequences that this entails.

What this means for libraries and their services remains to be seen.

Whether libraries will still play a role in technical singularity might currently still be a question for the future and so far off that we don’t need to ponder it yet. Actually, however, libraries already perform services that use machines to render results more intelligent than human thought.

Anyone who generates insights by combining (freely) available data and reveals patterns that would not have been achieved through intellectual reasoning, for instance, has already made a contribution to machine intelligence. And this is merely the beginning.

The use of digitised and digitally born materials and data for a new combination of knowledge is in full swing. The previous mechanisms of the classical reception of the written word, citation when it is re-used and its incorporation into new knowledge components could be coming to an end.

Once again, art – and especially music and the understanding of its works here – is one step ahead: the Federal Constitutional Court in Germany has just authorised the permission-free use of samples for artistic design and does not see an infringement into copyright and ancillary protection rights for much longer. After all, the digital world allows the re-composition of contents and the creation of new patterns without any complex “copying” and citation.

Also and especially in science, digital recombination can be meaningful and the contents of previous fragments of knowledge yield insights that have not been possible until now. The hope remains that this will no longer be prohibited in future and that science will gain a sizeable slice of freedom as a result.

This also reveals where the journey of open science is really heading: namely way beyond uptight open access discussions, where contracts and licenses are scoured with bookkeeping pettiness, formalists compile unbearable Excel tables and this is sold as a transformation of the publishing industry.

The journey of open science is leading into a bright future of truly free science, where results are freely accessible and publication and reception will no longer be commercial products for the purpose of maximising corporate profits. And this future is a lot closer than technical singularity.

Rafael Ball