von Rafael Ball
Man nimmt China meist nur selektiv wahr: 1,3 Milliarden Einwohner, kommunistische Volksrepublik, Streit um den Status von Taiwan und den Jangtze-Staudamm, jenes umstrittene Riesenprojekt, in dessen Einzugsgebiet ein Zehntel der Weltbevölkerung lebt und dessen Realisierung dreizehn Großstädte und Tausende Dörfer in den Fluten versinken lassen wird1. Nur zu leicht übersieht man dabei den Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht, der sich an jenen Börsen vollzieht, die trotz Überschuldung vieler chinesischer Großbanken (die Gesamtsumme fauler Kredite in China wird auf 397 Milliarden Euro geschätzt2) immer noch florieren und der in einer geschickten Außenwirtschaftspolitik sichtbar wird. Die Öffnung des Landes ohne Selbstauflösung scheint zu gelingen3 und die Technisierung des Alltags schreitet voran; schon heute telefonieren 120 Millionen Chinesen mobil, im Jahre 2005 wird sich die Zahl verdoppelt haben4.
![]() Abbildung 1: Die Skyline von Shanghai
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![]() Abbildung 2: Der Bund alt und neu von Shanghai
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Der Neubau der Shanghai-Library ist ein sinnfälliges Symbol für die fulminante Entwicklung des chinesischen Bibliothekswesens in den letzen 20 Jahren. Überall entstanden neue Regionalbibliotheken, so in den Provinzen Fujian und Zhejiang, um nur einige zu nennen.
Neben Shanghai hat Peking eine neue Nationalbibliothek erhalten6, deren Gründung 1909 noch als Erinnerung an die Quing-Dynastie gedacht war. 1928 wurde sie als Nationalbibliothek Pekings geführt und erst nach der Ausrufung der Volksrepublik zur Nationalbibliothek Chinas ausgebaut7. Sie beherbergt heute fast 20 Millionen Bände, wobei zu vermuten ist, dass hierbei Zeitschriftenbände mitgezählt werden. Dass sich das moderne China keineswegs von der Kommunistischen Partei verabschiedet hat zeigen jene Formulierungen über den Zweck von Bibliotheken. Im zitierten Beitrag von Weiming und Ning von 1996 wird die Aufgabe der Bibliothek darin gesehen "to collect, process, preserve and dissiminate human knowledge and information for the Communist Party of China..."8, während diese Benutzergruppe in späteren Publikationen zur Nationalbibliothek nicht mehr oder nicht mehr an erster Stelle genannt wird.
Als größte Bibliothek Asiens und fünftgrößte Nationalbibliothek der Welt9 verfügt die Nationalbibliothek in Peking über mehr als 140.000 m² Nutzfläche (die offizielle Web-Site spricht von 170.000 m² Nutzfläche10) und nahezu 10 Millionen Bände (die offizielle Web-Site nennt 22,4 Millionen Bände), rund 11.000 Zeitschriften bei 1500 Mitarbeitern.11 (Zum Vergleich: Die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin verzeichnet in beiden Häusern eine Gesamtnutzfläche von rund 130.000 m² bei knapp 10 Millionen Bänden, 900 Lesesaalplätzen und rund 830 Mitarbeitern, während die Bayerische Staatsbibliothek 7,6 Millionen Bände, 40.000 laufende Zeitschriften, 650 Lesesaalplätze und ca. 600 Mitarbeiter bei einer Nutzungsfläche von 65.000 m² aufweist.)
Anders als die Shanghai-Library ist das Gebäude bewusst in einem Stil errichtet, der der Besonderheit einer chinesischen Nationalbibliothek Ausdruck geben soll: Nationale Identität einerseits, Anspruch an High-tech und Fortschritt andererseits. Viele traditionelle chinesische Architekturelemente sind hierbei eingeflossen.12 Die Shangai Library ist die zweitgrößte Bibliothek Chinas. Gemeinsam mit der Nationalbibliothek in Peking bestimmt sie die Bibliotheksentwicklung in China maßgeblich mit.13
Dabei ist Shanghai als größte Stadt Chinas mit geschätzten 14 Millionen Einwohnern in bibliothekarischer Hinsicht bemerkenswert. Mit 35 wissenschaftlichen und ebenso vielen öffentlichen sowie 15 Spezialbibliotheken ist die bibliothekarische Infrastruktur gut ausgebaut. Allein 34 öffentliche Bibliotheken haben seit 1982 ein neues Gebäude bezogen.14 Während die neunziger Jahre eine neue Freiheit und damit eine neue Kundenorientierung mitbrachten, wurde weiterhin auf Ästhetik geachtet. Die Investitionen in die Bibliothek, ihre Bestände und in die Informationstechnologie sind beachtlich. Allein die Shanghai Library verzeichnet von 1995-1998 einen Budget-Zuwachs von 120 Prozent (!)15, während Kulturpolitiker in Deutschland ihre Lieblingsvisionen in der Stiftungspraxis als bürgerlichem Engagement zum Ausgleich magerer Kulturetats sehen und dafür sogar noch Handbüchlein erstellen.16
![]() Abbildung 3: Kinderbibliothek in Suzhue
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![]() Abbildung 4: Die Büchertürme der Shanghai-Library
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![]() Abbildung 5: Der chinesische Lesesaal
der Shanghai-Library |
![]() Abbildung 6: Die Eingangshalle der Shanghai-Library:
Blick auf die Rückwand mit altchinesischen Schriftzeichen |
Während man in Europa allenthalben über das Ende des Lesens debattiert, scheint es hier gerade erst begonnen zu haben. 10.000 Besucher finden täglich den Weg in die 83.000 m² große Bibliothek, die voll ist mit lesenden Menschen, überall: auf Treppen, Stufen und Nischen.
![]() Abbildung 7:
Konfuziusgarten der Weisheit |
Offensichtlich brauchen Bibliotheken den historischen Rückgriff um so mehr, je mehr sie in elektronische Informations-Ressourcen investieren. Und auch hieran wird in China nicht gespart. Wenn die Ausstattung mit Rechnern ein Indiz ist für die Leistungsfähigkeit einer Bibliothek, dann haben chinesische Bibliotheken längst zum Überholen angesetzt, die Shanghai-Library allen voran. So ist es nicht unpassend, dass gerade hier die Wendung von der bücher- und medienorientierten Bibliothek zum Knowlegde-Portal vollzogen wird.20 Die Shanghai-Library beherbergt das "Institut of Scientific and Technical Information of Shanghai" (ISTIS), das die Bibliothek als clearinghouse und "think tank" der Stadt entwickeln und "reference service" für die soziale und industrielle Entwicklung sein soll.
![]() Abbildung 8: Einer der Ausleihschalter
mit Blick auf die Buchförderanlage |
Am renommierten Institut für Library Science an der University of Wales in Aberysthwyth ausgebildet, repräsentiert Jianzhong Wu den Typus des erfolgreich-dynamischen, verbindlich offenen Managers. Seinem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass der auch in der Shanghai-Library verbreitete Schlendrian weitgehend verschwunden ist, die Mitarbeiter zur Weiterqualifikation ins Ausland geschickt werden und seine Vision der Bibliothek als Knowledge-Center in Angriff genommen wird.
Auch das erste "Shanghai International Library Forum" diente dieser Internationalisierungsstrategie Wus. Unter dem Titel "Knowledge Navigation and Library Services" hatte Wu vom 15. bis 18. Juli 2002 eine ganze Reihe hochkarätiger Fachleute aus aller Welt in Shanghai versammeln können. Gekommen waren vor allem Vertreter aus dem pazifisch-asiatischen Raum und den Vereinigten Staaten. Bezeichnender Weise gab es nur minimale Präsenz aus Europa. Wu machte in seiner Eröffnungsrede noch einmal deutlich, wie ernst es ihm mit dem Umbau seiner Bibliothek zum Knowledge-Center ist und ließ sich vom Direktor der Library of Congress in Washington, Winston Tabb, seinen Knowledge Management-Kurs bestätigen und von Gary Strong, dem Direktor der Queens Library in New York, dessen Multi-Kulti-Bibliotheksansatz erläutern. Das opulente Rahmenprogramm zeugte von der Bedeutung, die man solchen Internationalisierungsmaßnahmen beimisst.
Das kommunistische China ist hoffähig geworden - nicht nur in der Wirtschaft und der Politik. Strukturelle Veränderungen, grundlegende Neuerungen und massive Investitionen im Bibliothekswesen lassen die bibliothekarischen Kleinkriege in Europa und in Deutschland allzumal als reine Rückzugsgefechte erscheinen.
1. Staumeldungen: Der Drei-Schluchten-Damm macht den Fluss Jangtze zum See. FAZ Sonntagszeitung, 9.6.2002
2. Der lange Marsch zur Bankreform. FAZ, 21.5.2002
3. Christoph Hein: Bei den Freunden in Wolfsburg. FAZ 12.4.2002
4. Christoph Hein: Der zerbrechliche Gigant. Chinas Weg in die Weltwirtschaft. FAZ 21.2.2002
5. Shanghai Daily, 16/7/2002 und 18/7/2002
6. Tang, Shaoming: The present and future development of the National Library of China. In: Focus Int. Comp. Librarianship. London, 1994, 2, S.73-78
7. Weiming, Jiang, Ning, An: The National Library of China. In : Alexandria, Aldershot, 8, 1996, 2, S. 143-147
8. Weiming, Jiang, Ning, An: a.a.O., S. 144
9. LAP: Libraries of Asia pacific: http://www.nla.gov.au/lap/libs/china.html
10. The National Library of China in Brief: http://www.nlc.gov.cn/newpages/english/situation/index.htm
11. A Tour of Selected national Libraries of Asia: http://www.slais.ubc.ca/courses/libr500/2000-2001-wt1/www/l_kelly/china.htm.
12. Frampton, K.(Hrsg): World Architecture 1900-2000: A Critical Mosaic, Volume 9: East Asia, Springer, Wien, New York 2000, S. 166 fff.
13. http://www2.db.dk/pe/china/shanghai.htm. Weitere Informationen zu wichtigen Bibliotheken in China u.a. auch in: http://www.britishcouncil.org.cn/english/infoexch/libchi.htm
14. Yuanlang, Ma: The development of library buildings in Shanghai. In: Library buildings in a changing environment. Hrsg: Bisbrouck, M. et al., Shanghai, China 14-18 August 1999, (IFLA publications 94) 2001. S.31-38
15. Yuanlang, Ma: a.a.O., S.34
16. Kulturstiftungen - ein Handbuch für die Praxis. Bundesverband Deutscher Stiftungen, Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kunst und Kultur et al., Berlin 2002
17. Knöppel. H.-A.: Der Neubau der Universitätsbibliothek Greifswald und digitale Informationsversorgung. In: ABI-Technik, 22, 2/2002, S.112 ff
18. Die deutsche Informationsbibliothek ist mit einem deutschsprachigen Grundbestand von 2000 Medien, 20 Zeitungs- und Zeitschriftenabonnements sowie vielen audiovisuellen Medien ausgestattet. Die Bibliothek wird in einem gemeinschaftlichen Prinzip betrieben: Die Shanghai-Library stellt Räume, Personal und die Infrastruktur, das Goethe-Institut übernimmt die Medienausstattung und die Fortbildung. Damit ist die deutsche Informationsbibliothek in der Shanghai-Library einem Deutschen Lesesaal der Goethe-Institute vergleichbar. http://www.goethe.de/os/pek/deiinf.htm
19. Wu, Jjanzhong: Constructing a new Shanghai Library. In: 62nd IFLA General Conference - Conference Proceedings - August 1996 (http://www.ifla.org/IV/ifla62/62-jiaw.htm)
20. Miao, Qihao: From Literature Centre to knowledge portal: Shanghai Library in search of excellence 2.0. In: Library Review, (50), 7/8, 2001, S. 349-354
2. 1Wu Jianzhong, new head of the Shanghai-Library. Press release: http://www.libnet.sh.cn/silf2002/release.htm
Dr. Rafael Ball ist Leiter der Zentralbibliothek des
Forschungszentrum Jülich GmbH
D-52425 Jülich
E-Mail: r.ball@fz-juelich.de