Aus aktuellem Anlass:
Drei Thesen zur Entwicklung digitaler Bibliotheksdienste
Die Corona-Krise hat noch einmal auf besondere Art und Weise die vielen Möglichkeiten für digitale Bibliotheksdienste aufgezeigt – so haben wir es als Dienstleister für Software-Projekte in Bibliotheken jedenfalls aus unserer Außenperspektive wahrgenommen. Eine abschließende Bewertung steht natürlich noch aus, aber in den ersten sechs Wochen seit dem Lockdown wurden viele Schritte in die Richtung derjenigen „Digitalen Bibliothek“ gegangen, die man bisher nur als Zukunftsvision kannte – sei es von ehrgeizigen Universitätspräsidenten, mit ihren lauten „E-Only“-Rufen oder besonders progressiven Berufskolleg*innen.
Aber wie sieht diese digitale Bibliothek der Corona-Zeit aus? Allen voran hat sie einen provisorischen Charakter: Discovery-Systeme bekommen hastig auffälligere Filter für elektronische Medien, Scan-on-Demand-Dienste werden temporär aufgezogen, Literaturlisten zusammengestellt, verschiedene Tools für die digitale Auskunft erprobt. Und bei alledem macht der plötzliche und erzwungene Umzug in den digitalen Raum möglich, was vorher ausgeschlossen war: Einen neuen Dienst ohne lange Erprobungsphase bereitzustellen und im Live-Betrieb weiter zu entwickeln.
1. Digitale Dienste entstehen auf neuen Wegen
In vielen Software-Entwicklungsprojekten mit Bibliotheken haben wir immer wieder ein großes Streben nach Perfektion erlebt. Perfektion oder besser: Genauigkeit ist ein identitätsstiftendes Konzept von Bibliotheken. Allerdings ist der Weg zur Perfektion manchmal lang und erfordert auch das Aushalten von unfertigen Zuständen – was nicht leicht ist, wenn man Lösungen wie die gängigen Bibliothekssysteme gewohnt ist, die jahrzehntelang bis in kleinste Details perfektioniert worden sind. Daher fällt vielen Bibliothekar*innen die Arbeit mit Discovery-Systemen schwer, die auch nach jahrelangem Einsatz immer wieder „fehlerhaft“ scheinen, weil seltene Metadaten-Elemente nicht oder nicht richtig dargestellt werden oder Ranking-Algorithmen unklar sind.
Alles Neue – egal ob ein temporärer Auskunftsdienst oder ein ganz neues Bibliotheksmanagementsystem wie Folio – wird zunächst einmal unperfekt sein: Noch nicht fein genug ausdifferenziert, ohne gewohnte „Sonderlocken“ oder entwickelte Workarounds, denn die modernen Wege der Software-Entwicklung sehen vor, dass man sich einem großen Ziel in kleinen Schritten nähert und auf diesem Weg aushalten muss, dass es an manchen Stellen holpert – während gleichzeitig aber die Wege zu einem klar definierten Ziel deutlich sind und die Prozesse zur Beseitigung der Fehler ebenso. Tatsächlich hat bereits ein schwedischer Bibliotheksdirektor seine gesamte Bibliothek nach diesen Prinzipien der agilen Software-Entwicklung organisiert.1 Die Begleitung von Software-Entwicklungsprozessen in diesem Sinne ist eine der besonderen Stärken von effective WEBWORK: Wir sind besonders gut darin, die neuen Wege zu erklären und für das jeweilige Projekt und die Bibliothek passend zu formen und sensibel zu begleiten.
2. Digitale Dienste brauchen neue Kompetenzen und Kooperationsformen
Die Corona-Krise hat noch nie dagewesene Fokussierung auf den digitalen Raum verlangt. Und sie hat klar gemacht, dass ein sehr großer Teil der Arbeitskraft einer Bibliothek nach wie vor in die Arbeit mit den gedruckten Beständen fließt. Das lässt sich nicht ohne Weiteres ändern, denn digitale Dienste zu konzipieren, zu implementieren und weiter zu entwickeln braucht spezielle Kenntnisse. Der Austausch der bibliothekarischen DNA hat aber schon längst begonnen – man denke an den durchaus nachhaltigen Personalzuwachs der Bibliotheken durch den Aufbau der virtuellen Fachbibliotheken ab Ende der 1990er Jahre. Während viele dieser vormaligen Projektmitarbeitenden noch eine bibliothekarische Ausbildung absolvieren mussten, um ihren dauerhaften Verbleib in Bibliotheken zu sichern, könnte es zukünftig auch ohne diese gehen, denn insbesondere die großen, kooperativen Software-Entwicklungsprojekte wie zum Beispiel Folio zeigen auf, dass sie ein Antreiber für Veränderungen in der Organisations- und Arbeitskultur in Bibliotheken sein können: Digitale Dienste sind immer ein Produkt der Kooperation verschiedener Fachleute aus IT, Bibliothek, Design oder der universitären Forschung und oft auch zwischen über verschiedene Einrichtungen hinweg. Dabei gilt es dann, die eigene Fachkenntnis in den Kontext der anderen Beteiligten zu stellen, zu abstrahieren und dem gemeinsamen Ziel unterzuordnen – und das alles in Zukunft sicher häufiger als bisher in virtueller Form, sei es mit Videokonferenzen und Chat-Diensten oder mit Kollaborations-Tools wie Gitlab und OpenProject. Wir machen bei unseren Projekten, gerade auch bei denen zu neuen Themen wie dem Aufbau von Repositories mit DSpace und Co., immer wieder die Erfahrung, dass es sich lohnt, Zeit in die Auswahl solcher Tools zu stecken und ihre Benutzung immer wieder gemeinsam zu reflektieren. Eine gute Kommunikation und die Transparenz von (Entscheidungs-)Prozessen sind ein wichtige Erfolgsfaktoren von Entwicklungsprojekten, die auch dabei helfen, die nachhaltige Weiterentwicklung der so entstandenen Dienste zu erleichtern – auch über die aktuelle Situation hinaus.2
3. Digitale Dienste brauchen klare Strategien
Digitale Dienste waren lange nur ein Add-On zu den klassischen bibliothekarischen „Kerngeschäften“ wie der Ausleihe oder der Bereitstellung von Lern- und Arbeitsräumen. Ein digitaler Auskunftsdienst existierte immer nur neben dem realen, und wie bis in das 21. Jahrhundert standen sicherheitshalber immer noch Zettelkataloge neben den OPAC-Arbeitsplätzen, und noch immer stehen Nachschlagewerke wie der Oeckl an Auskunftstheken. Das digitale, so scheint es jedenfalls, ist in der Wahrnehmung vieler immer noch eher das Zweitbeste. Dabei haben die Nutzenden bereits weitestgehend entschieden, ihre Suchen nach Informationen nahezu ausschließlich im digitalen Raum zu beginnen.3 Auf diese fundamentale Änderung im Informationsverhalten gilt es nach wie vor Antworten zu finden, und zwar solche, die anerkennen, dass der digitale Raum der Dreh- und Angelpunkt für ausnahmslos alle Bibliotheksdienste ist, seien es das Browsing durch Bücherregale, die Reservierung von Gruppenarbeitsräumen oder die Beratung zur Nutzung von Literaturverwaltungsprogrammen. In den vergangenen Jahren wurde viel Geld in die Renovierung von physischen Bibliotheksräumen gesteckt, und viele Bibliotheken wurden für ihre Innovationskraft dabei gefeiert - insbesondere deswegen zu Recht, weil sich im Bibliotheksbau bereits durchgesetzt hat, was bei der Entwicklung der digitalen Dienste oft nicht erfolgt, nämlich die Einbeziehung von Nutzenden in den Gestaltungsprozess.4
Damit sich die Wow-Erlebnisse aus dem Bibliotheksbau auch auf Benutzungserlebnisse mit den digitalen Diensten übertragen können, ist es neben solchen Partizipationsmöglichkeiten aber auch erforderlich, dass eine deutliche Strategie für den digitalen Raum formuliert wird. Eine solche Strategie kann als Leitplanke für das Handeln dienen, bei der Verteilung von Ressourcen helfen und auch beim Erstreiten von Ressourcen und auch den notwendigen Freiheiten. Zu oft sind nämlich wissenschaftliche Bibliotheken zu wenig frei in der Gestaltung des Ausgangspunktes ihrer digitalen Dienste, ihrer Websites. Eine solche Website ist mehr Werkzeug denn Selbstdarstellung, und für die Gestaltung dieser Werkzeuge sind Freiräume im Webdesign notwendig, die vielen Bibliotheken von den vorgesetzten Marketing-Abteilungen der Hochschulen nicht eingeräumt werden.
Die ersten Wochen der Corona-Krise haben das große Potenzial gezeigt, das sich für Bibliotheken bei der Entwicklung von digitalen Diensten bietet. Die Krise hat auch Entschlossenheit und Mut freigesetzt, Neues auszuprobieren. Und die Krise hat daran erinnert, dass es nicht das eine Erfolgsrezept gibt, das für alle Bibliotheken gleich ist, sondern es vielmehr zu fragen gilt: Für wen soll etwas entwickelt werden, welches Problem soll gelöst werden? Auch hier lohnt es sich, Zeit zu investieren, vielleicht „User Stories“ zu schreiben, aber eben vor allem eine Einordnung in einen strategischen Gesamtzusammenhang zu haben. Bei der Entwicklung dieser Strategien und einer ganz individuellen Machbarkeitsstudie sind wir von effective WEBWORK seit Anfang dieses Jahres auch gern behilflich und stehen Bibliotheken mit unseren Erfahrungen aus Führungspositionen in Hamburg und Lüneburg zur Seite.
Fußnoten
1 Daniel Forsman: Introducing agile principles and management to a library organization. In: Library Management in Disruptive Times: Skills and Knowledge for an Uncertain Future, S. 85–99.
2 Brandtner, Andreas; Lee, Martin; Riesenweber, Christina: Organisationsentwicklung und Corona-Krise: Digitale Übersetzungen in einem großen Change-Projekt. In: B.I.T. Online. Online verfügbar unter https://b-i-t-online.de/daten/corona-fu-berlin.php..
3 Holman, Lucy (2011): Millennial Students' Mental Models of Search: Implications for Academic Librarians and Database Developers. In: The Journal of Academic Librarianship 37 (1), S. 19–27. DOI: 10.1016/j.acalib.2010.10.003.
4 Marquez, Joe; Downey, Annie (2015): Service Design: An Introduction to a Holistic Assessment Methodology of Library Services. In: Weave: Journal of Library User Experience 1 (2). DOI: 10.3998/weave.12535642.0001.201.
Information zu den Autoren
Anne Christensen
effective WEBWORK GmbH
Neuer Wall 18
20354 Hamburg
christensen@effective-webwork.de
Anne Christensen hat Bibliotheks- und Informationswissenschaften studiert und über 20 Jahre Berufserfahrung als Bibliothekarin – u.a. als Leiterin von IT-Projekten an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und als Bibliotheksdirektorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie ist seit Anfang 2020 als Partnerin bei effective WEBWORK an Bord und unterstützt Bibliotheken bei der Konzeption und Durchführung von Projekten sowie der strategischen Entwicklung. Als eine der führenden Expertinnen im Bereich der Discovery-Systeme reflektiert sie diese und andere Dienste regelmäßig im neuen Blog auf der Website der effective WEBWORK.
Prof. Dr. Matthias Finck
effective WEBWORK GmbH
Neuer Wall 18
20354 Hamburg
finck@effective-webwork.de
Matthias Finck ist promovierter Informatiker. Nach Abschluss seiner Promotion hat er sechs Jahre in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg gearbeitet und dort u.a. die Entwicklungsabteilung geleitet. Seit 2007 ist Matthias Finck Inhaber der effective WEBWORK GmbH. Eine Firma, die sich auf Entwicklungsdienstleistungen rund um Open Source Systeme im Bildungs- und Bibliothekssektor spezialisiert hat. Parallel dazu hat Matthias Finck einen Lehrstuhl für Usability Engineering an der Nordakademie inne und beschäftigt sich dort vor allem mit der Gestaltung webbasierter Systeme. Ein Forschungsschwerpunkt bilden dabei bibliotheksspezifische webbasierte Open Source Systeme.