Organisationsentwicklung und Corona-Krise:
Digitale Übersetzungen in einem großen Change-Projekt
Andreas Brandtner, Martin Lee, Christina Riesenweber
Im Mai 2019 haben wir am Bibliothekssystem der Freien Universität Berlin (FU) das umfassende Change-Projekt Wandel@FU-Bib gestartet. Mit diesem Projekt realisieren wir ausgeprägte Entwicklungs- und Veränderungsprozesse, um die Informationsinfrastruktur der FU für gegenwärtige Aufgaben und zukünftige Herausforderungen optimal aufzustellen. Dabei werden alle Organisationsaspekte in den Fokus genommen, also strategische Ausrichtung, Struktur, Prozesse, Kultur sowie Produkt- und Serviceportfolio. Das Change-Projekt verfolgt vier zentrale Ziele: (1) Fusion des Bibliothekssystems mit dem Center für Digitale Systeme (CeDiS), das Forschung und Lehre beim Einsatz digitaler Medien und Technologien unterstützt; (2) Umsetzung der funktionalen Einschichtigkeit; (3) Erhöhung von Nutzungsorientierung und Servicequalität; (4) Steigerung von Agilität, Flexibilität, Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit.
Elementar für einen Change-Prozess dieser Dimension sind eine intensive Kooperation der Projektteams, eine hohe Partizipation der Mitarbeitenden und eine vielfältig ausgeprägte Kommunikation. Bereits in der Vorprojekt-Phase wurden dafür die entsprechenden Vorbereitungen getroffen, mit Projektbeginn wurden diese engagiert umgesetzt. Dabei haben wir uns vor allem auf persönliche Begegnungen und Gespräche konzentriert und damit die gemeinsame physische Präsenz vorausgesetzt. Verschiedene Formate wurden sowohl für die Arbeit der Projektteams als auch für den Einbezug möglichst aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickelt. Ganz selbstverständlich wurde die Kick-off-Veranstaltung im Rahmen einer Vollversammlung mit über 200 Teilnehmenden realisiert, das Strategie-Team verbrachte viele Stunden miteinander, um Vision, Mission, Werte und strategische Ziele zu formulieren. Meetings, Sitzungen, Jours fixes usw. waren über Monate die maßgeblichen Informations- und Kommunikationsforen, um über das Projekt zu berichten und zu diskutieren. Hinzu kam eine Reihe von Workshops mit bis zu 80 Mitarbeitenden zur Reflexion der Projektfortschritte und der Strategie-Entwicklung. Das zur internen Kommunikation genutzte Wiki-System hat das Projekt unterstützt und dokumentiert, der Schwerpunkt lag aber auf der real-physischen Begegnung. Gemeinsam mit unserem Beratungsteam haben wir entsprechende Methoden und Formate gezielt ausgewählt und ausgebaut. Mit dieser Herangehensweise soll eine Organisation geschaffen werden, die auf transparenter Information und offener Kommunikation beruht, die den Dialog in ihr Zentrum rückt.
Seit dem 20. März 2020 stehen uns diese physischen Kommunikationsformen nicht mehr zur Verfügung. Die FU hat zur Eindämmung des neuartigen Corona-Virus beschlossen, die Präsenz am Campus auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren und direkte physische Kontakte zu vermeiden. Das letzte Präsenz-Treffen der Projektleitung fand am 16. März statt. Dabei haben wir vereinbart, dass wir fast alle Aktivitäten im Rahmen unseres Change-Projektes zu den ursprünglich gesetzten Terminen durchführen werden und mit Hochdruck an einer Digitalisierung der Formate arbeiten.
Abstimmungstermine und kleinere Treffen zum Beispiel zwischen Direktion, Projektbüro und Beratungsteam konnten nahtlos in Online-Videokonferenzen überführt werden. Größere Treffen und Workshops wurden vom Projektbüro und dem Beratungsteam neu geplant und als digitale Veranstaltungen in Echtzeit umgesetzt. Für die Arbeit des Strategie-Teams mit elf Teilnehmenden haben wir zwei Werkzeuge kombiniert und sowohl ein Kommunikationstool - für Videokonferenz, Chat und Arbeit in Kleingruppen - als auch ein Kollaborationstool - als virtuelle Pinnwand für die Sammlung, Bearbeitung und Visualisierung - verwendet. Für zwei Kollegen, die im Moment stark im Bereich digitale Lehre eingespannt und deswegen für die Online-Meetings verhindert sind, konnten wir Teile der Strategie-Workshops aufzeichnen und als Dokumentation anbieten, also auch neue Formen der asynchronen Teilnahme ermöglichen.
Wir haben die Ambition bei den Zielen der Workshops der neuen Situation angepasst. Zudem haben wir ein gemeinsames Ausprobieren der digitalen Werkzeuge methodisch am Anfang des ersten Workshops eingebaut. Darüber hinaus haben wir uns zum Start auf klare Kommunikationsregeln geeinigt, wie etwa „Hand heben für Redebeiträge” und „Chat nutzen für Anmerkungen zwischendurch”. Als überaus hilfreich hat sich die klare Visualisierung der Agenda, der Zwischenergebnisse und anderer Inhalte auf dem digitalen Whiteboard erwiesen. Für einen erfolgreichen Online-Workshop sind eine hohe Konzentration und Disziplin in der Vorbereitung und Durchführung absolut notwendig. Hilfreich ist der Einsatz von zwei Moderationsrollen, wobei die eine Person die Inhalte moderiert und die andere Person sich um die Tools und die Dokumentation kümmert. Zudem haben wir gemerkt, dass aufgrund der permanenten Bildschirmsituation mehr Pausenzeit eingeplant werden soll.
Das Rechenzentrum der FU wie auch das Projektbüro haben intern eine laufend angepasste kommentierte Tool-Liste mit einer Zusammenstellung der jeweiligen Vorteile und ganz explizit auch mit den negativen Aspekten und Vorbehalten veröffentlicht, die für das flächendeckende Arbeiten im Home-Office von vielen als hilfreich empfunden wird. Die Direktion und die Führungskräfte nutzen die internen Wikis, Blogs, E-Mails und regelmäßigen Besprechungsroutinen, die nun per Telefon- oder Videokonferenz stattfinden, um zu informieren, neue Standards und Richtlinien zu kommunizieren, Feedback einzuholen und Mut zu machen. Die aktuelle Zeit ist im positiven Sinn ein Belastungstest für die digitalen Tools, die wir benutzen, und die digitalen Services, die wir selbst anbieten. Die große Chance besteht darin, dass digitale Tools und eine entsprechende Haltung dauerhaft in den Arbeitsalltag überführt und dort etabliert werden können.
Das Ziel unseres Change-Projektes ist es unter anderem, die Zusammenarbeit unserer Mitarbeitenden agiler und flexibler zu gestalten. Auch wenn die Rahmenbedingungen denkbar belastend sind, wirkt die Corona-Krise hier als Beschleuniger. Wir müssen in Echtzeit lernen, bislang unerprobte Werkzeuge einzusetzen und neue Wege der Kommunikation zu finden. Wir haben keine Zeit für umfangreiche Schulungsmaßnahmen, sodass wir uns auf die Suche nach Personen machen, die Expertise oder Interesse für neue Software und Methoden mitbringen, um diese dann zeitnah einzusetzen. Im Minimalfall heißt das zum Beispiel, dass wir innerhalb von 24 Stunden einen Twitter-Account für die Bibliotheken der FU eingerichtet und zum Laufen gebracht haben, der von einem abteilungsübergreifenden Team betreut wird. Im Maximalfall heißt das, dass wir binnen einer Woche einen Großteil der Kolleginnen und Kollegen mit dem Know-how ausgerüstet haben, einen funktionalen mobilen Arbeitsplatz auf die Beine zu stellen. VPN-Client, Softphone und Echtzeit-Chat sind binnen kürzester Zeit zu Standards geworden, die fast alle verwenden können. Das hätten wir ohne die Krise nicht geschafft, und wir werden sicherlich langfristig von diesen Fertigkeiten profitieren.
Am anderen Ende des Optimismus stehen mindestens zwei Sorgen: Erstens ist die technische Infrastruktur der durchgängigen digitalen Arbeit nicht an allen Stellen gewachsen. So wurden beispielsweise rasch die Grenzen des universitätsinternen Telefonnetzes durch die Vielzahl der automatischen Weiterleitungen erreicht, und Videokonferenz-Systeme zeigen Performance-Probleme durch Überlastung. Zweitens haben wir im Change-Prozess im vergangenen Jahr deutlich gesehen, dass nicht alle Kolleginnen und Kollegen die anstehenden Veränderungen nachvollziehen können und begrüßen. Wir laufen Gefahr, dass wir gerade diese Personen im Zuge der aktuellen Krise aus den Augen verlieren, wenn sie sich nicht aktiv in die laufenden Kommunikationsprozesse einbringen (können). Deswegen sind im Moment alle Mitarbeitenden mit Führungsverantwortung besonders gefragt, hier spezielle Energie zu investieren.
Während die Suche nach geeigneten, leistungsfähigen und vor allem sicheren Kommunikationstools für Videokonferenzen, digitale Kollaboration und Visualisierung sowie Entlastung des E-Mail-Verkehrs bereits angelaufen ist, steht bei uns auch die informelle Kommunikation auf der Agenda. Wie schaffen wir soziale Räume in der virtuellen Zusammenarbeit, um unsere kollegialen Beziehungen zu pflegen, auch wenn wir uns nicht mehr auf dem Flur, im Pausenraum oder an der Kaffeemaschine begegnen? Wir denken, dass es wichtig ist, auch hier Vorschläge zu machen und gemeinsam Ideen zu entwickeln. Wir können hierbei auf der Arbeit des ersten Projektjahres aufbauen, da wir einen bewussten Schwerpunkt auf die Schaffung von Begegnungsmöglichkeiten gelegt haben. Über all unsere 15 Standorte hinweg kennen sich die Menschen im Krisen-Frühjahr 2020 wesentlich besser als noch vor einem Jahr. Wir hoffen, dass diese Vorarbeit zu einem Gelingen unserer Vorhaben in der aktuellen Situation beitragen kann.
Dr. Andreas Brandtner
Direktor der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin
brandtner@ub.fu-berlin.de
Martin Lee
Gesamtprojektleiter des Change-Projekts der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin
martin.lee@fu-berlin.de
Dr. Christina Riesenweber
Projektmanagerin des Change-Projekts der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin
christina.riesenweber@fu-berlin.de